Gefährdet die Reform der Europäischen Berufsanerkennungsrichtlinie das duale System?

In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind insgesamt rund 800 Berufe reglementiert, das heißt, die entsprechenden Berufe dürfen nur dann ausgeübt werden, wenn die vorgegebenen nationalen Berufsqualifikationen vorhanden sind. Dies gilt gleichermaßen für Inländer wie für EU-Ausländer. Damit trotzdem die Mobilität innerhalb des europäischen Binnenmarktes gewährleistet werden kann, hat der europäische Gesetzgeber ein Verfahren zur Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen entwickelt, das seit dem Jahr 2005 in der sogenannten Europäischen Berufsanerkennungsrichtlinie geregelt ist. Die Richtlinie hat in der Praxis -auch für das nordrhein-westfälische Handwerk - einen hohen Stellenwert erlangt, weil sie zum einen den Zugang von EU-Bürgern zu den inländischen zulassungspflichtigen Handwerksberufen, die in der Anlage A der Handwerksordnung aufgelistet sind, regelt. Zum anderen gelten ihre Anerkennungsvorschriften aber umgekehrt auch für deutsche Handwerksunternehmerinnen und -unternehmer, die im europäischen Ausland Leistungen erbringen wollen, wenn diese dort einem Reglementierungsvorbehalt unterliegen.

Die Europäische Kommission hat am 19. Dezember 2011 - nach einer umfangreichen Konsultation, an der sich auch die nordrhein-westfälischen Handwerksorganisationen beteiligt haben -einen Vorschlag zur Überarbeitung der Europäischen Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen vorgelegt. Der Änderungsentwurf der Europäischen Berufsanerkennungsrichtlinie sorgt vom Tag seines Erscheinens an - auch im deutschen Handwerk - für Furore. Dabei ist die Idee, die hinter der Reform steht, zunächst einmal vom Ansatz her begrüßenswert. Die Mobilität von qualifizierten Berufstätigen ist - trotz der geltenden Arbeitnehmerfreizügigkeit - innerhalb der Europäischen Union nach wie vor gering. Laut einer Eurobarometer-Umfrage aus dem Jahr 2010ziehen zwar 28 % der EU-Bürger eine Beschäftigung im EU-Ausland in Betracht; tatsächlich aber ist der Prozentsatz derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die im Laufe ihres Berufslebens die Grenzen zwecks Berufsausübung überschreiten, nicht einmal zweistellig. Es gibt also offensichtlich ein großes Potenzial für Mobilität, das die Europäische Kommission in Zeiten eines ständig zunehmenden Mangels an qualifizierten Arbeitskräften- zum Beispiel in einer Wachstumsbranche wie dem Bauwesen - gerne ausschöpfen würde.

Einen wichtigen Grund für die derzeitige Immobilität der EU-Bürgerinnen und -Bürger sieht die Europäische Kommission in der nach wie vor aufwändigen gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen. Laut EU-Kommission - und dies haben auch die meisten Konsultationsbeiträge bestätigt - mangelt es bei der grenzüberschreitenden Berufsanerkennung an Transparenz, der Zugang zu Informationen ist umständlich und die Handhabung des Verfahrenszeitintensiv und kompliziert. Vor diesem Hintergrund schlägt die EU-Kommission die gezielte Modernisierung einzelner Vorschriften der Europäischen Berufsanerkennungsrichtlinie aus dem Jahr 2005 vor, die dazu führen soll, dass die Verfahren vereinfacht und beschleunigt werden.

Grundsätzlich unterstützt das nordrhein-westfälische Handwerk das Ziel der Europäischen Kommission, Mobilitätsbarrieren abzubauen und die Arbeitnehmermobilität zu fördern - dies ergibt sich von selbst aus der besonderen geografischen Lage Nordrhein-Westfalens quasi in der Mitte der Europäischen Union. Trotzdem muss der Reformvorschlag der Europäischen Kommission aus Sicht des Handwerks überwiegend kritisch gesehen werden; er bedarf in einzelnen Punkten dringend einer Korrektur. Es stünde ansonsten zu befürchten, dass die vorhandenen Qualifikationsstandards nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union weiter abgesenkt würden. Vereinfachungen dürfen aber nicht zu Lasten der Qualität gehen.

Dies haben auch die Europaabgeordnetenganz überwiegend so gesehen. In Vorbereitung des Berichts der Berichterstatterin Bernadette Vergnaudim federführenden Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlamentswurden723 Änderungsanträge zum Reformvorschlag der EU-Kommission zur Berufsanerkennung gestellt.Der Ausschuss verständigte sich schließlich im Februar 2013 parteiübergreifend auf eine Position, die der des Handwerks in Teilen entgegenkommt. Aufgrund der unterschiedlichen Auffassungen befindet sich das Gesetzgebungsverfahren nun im sogenannten Trilogverfahren, das heißt Europäische Kommission, Rat und Europaparlament beraten zur Zeit miteinander ihre unterschiedlichen Positionen. Das Ziel ist, bis Mitte des Jahres 2013 zu einer Einigung und damit zu einem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens zu kommen. Es gibt mehrere Kernpunkte der Richtlinienreform, über die in Brüssel diskutiert wird; zumindest drei davon hätten - je nach Ausgang der Debatte - erhebliche Auswirkungen auf die kleinen und mittleren Betriebe des Handwerks in Deutschland und mittelbar auch gravierende allgemeine arbeitsmarkt- und gesellschaftspolitische Folgen:

  • Das ist zunächst die geplante partielle Einführung des Herkunftslandprinzips bei der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung. Schon heute, d.h. nach den Regeln der bisher geltenden Europäischen Berufsanerkennungsrichtlinie aus dem Jahr 2005, sind die Anforderungen an die Berufsqualifikation der Dienstleistungserbringer, die nur gelegentlich und vorübergehend grenzüberschreitend tätig sind - sei es im Rahmen einer Dienst- oder eine Werkleistung -, im EU-Ausland äußerst gering. Unter bestimmten Voraussetzungen möchte die Europäische Kommission zukünftig aber auch auf diese bescheidenen Qualifikationsnachweise verzichten. In der Praxis würde dies bedeuten, dass allein diejenigen Anforderungen, die in dem Land gestellt werden, aus dem der Dienstleistungserbringer kommt, erfüllt sein müssten. Sachgerecht wäre es vielmehr, die abschließende Entscheidung über die Anerkennung von Qualifikationen zumindest im Regelfall dem jeweiligen Aufnahmeland vorzubehalten.
  • Aus Sicht des Handwerks ist auch das Vorhaben der Europäischen Kommission, den Anerkennungsmechanismus bei Niederlassungsvorgängen zu ändern, kritisch zu bewerten. Die derzeit geltende Anerkennungsrichtlinie kennt fünf Niveaustufen, in die die nationalen Berufsabschlüsse einsortiert werden müssen - ein Vorgang, der aufgrund der Vielzahl der von den Mitgliedstaaten reglementierten Berufe in der Praxis äußerst schwierig ist. Im Rahmen der Modernisierung der Europäischen Berufsanerkennungsrichtlinie steht nun zu befürchten, dass die hochwertigen Abschlüsse der deutschen Berufsausbildung nicht in die ihnen adäquaten Niveaustufe kommen. Tatsächlich müssten diese den universitären Abschlüssen gleichgestellt werden. Diese Auffassung teilt auch eine Mehrheit im Europäischen Parlament.
  • Das im Zusammenhang mit der Reform der Europäischen Berufsanerkennungsrichtlinie für das Handwerk grundlegendste Problem wäre die Einführung gemeinsamer Ausbildungsgrundsätze, zu denen sogenannte europaweite gemeinsame Ausbildungsrahmen und gemeinsame Ausbildungsprüfungen gehören würden. Die Realisierung dieses Ansatzes, der die automatische Anerkennung von Qualifikationen ermöglichen würde, würde das deutsche duale System unmittelbar gefährden. Wer die Anforderungen dieser europäischen Ausbildungsordnung erfüllt, soll automatisch berechtigt sein, sich in allen EU-Mitgliedstaaten niederzulassen. Die gemeinsamen Ausbildungsrahmen und die gemeinsamen Ausbildungsprüfungen stünden als Alternativmöglichkeit neben den bestehenden nationalen Ausbildungsanforderungen. Es liegt auf der Hand, dass die betroffenen Berufstätigen, wenn sie die Wahl erhalten würden, fast ausnahmslos das gemeinsame europäische Modell, das nur geringe Anforderungen stellen würde, dem deutschen anspruchsvollen - aber auch besonders erfolgreichen - Modell vorziehen würden. In Zeiten, in denen die Europäische Union nach wie vor danach strebt, wissensbasiertester Raum der Welt zu werden, wäre die damit zwangsläufig einhergehende Nivellierung nach unten allerdings das falsche Signal. Nicht alle Handwerksberufe wären von diesem Vorhaben der EU-Kommission betroffen. Voraussetzung für die Entwicklung gemeinsamer Ausbildungsrahmen und gemeinsamer Ausbildungsprüfungen soll laut Richtlinienentwurf sein, dass der Beruf bereits in mindestens einem Drittel der Mitgliedstaaten reglementiert ist. In Deutschland wären voraussichtlich Kälteanlagenbauer, Installateure, Heizungsbauer, Friseure und die Gesundheitshandwerke mit Ausnahme der Orthopädieschuhmacher betroffen. Nach dem Willen der Europäischen Kommission würden bezüglich der jeweiligen Berufsbilder die Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen von mindestens einem Drittel aller Mitgliedstaaten kombiniert und dann in die oben beschriebenen Niveaustufen einsortiert. Da die Europäische Kommission mit dieser Neuerung ausdrücklich die Mobilität fördern möchte, steht zu erwarten, dass das Ergebnis dieses Mixes qualitativ geringwertige Anforderungen hinsichtlich der Berufsqualifikation ergeben wird.

Nachbesserungen sind also in diesem Bereich dringend notwendig. Das Handwerk steht eindeutig hinter dem Ziel, die Freizügigkeit von Berufstätigen zu fördern und die Anerkennung von Berufsqualifikationen transparent, effizient und möglichst unbürokratisch zu regeln. Dies darf allerdings nicht auf Kosten des dualen Berufsbildungssystems gehen, das gerade in den letzten Jahren innerhalb der Europäischen Union eine Vorbildfunktion erlangt hat. Die Bedeutung des dualen Systems als Instrument zur Absicherung einer niedrigen Jugendarbeitslosigkeit hat sich in Ländern wie Spanien und Italien, in den die Jugendarbeitslosigkeitsquote gleichsam explodiert ist, herumgesprochen. Der EU-Durchschnitt dieser Quote liegt bei 23 Prozent; Deutschland hat mit acht Prozent diesbezüglich den niedrigsten Prozentsatz in Europa. Vor diesem Hintergrund vertritt das nordrhein-westfälische Handwerk auch über den Arbeitskreis „Europa" des Westdeutschen Handwerkskammertages, dessen Federführung seit 1994 bei der Handwerkskammer zu Köln liegt, die Auffassung, dass die praxisorientierte duale Bildung in Deutschland, aber auch in der gesamten Europäischen Union weiter gestärkt werden sollte. Die duale Ausbildung als Erfolgsformel für die Ausbildung dürfe nicht quasi durch die Hintertür demontiert werden.